Und Soce ist wunderschön. Das liegt nicht nur an den (mit EU-Mitteln) gut renovierten traditionellen Holzhäusern entlang der Straße, denn die Schuppen und ehemaligen Wirtschaftsgebäude in den Hinterhöfen sind nicht minder schön. Es ist vielmehr die scheinbare Intaktheit dieses Dorfes als Ort traditionellen ländlichen Lebens, die es für uns – Deutsche, Städter – so idyllisch erscheinen lässt.
Tatsächlich sind so gut wie keine Zeichen moderner Zivilisation wie etwa Autos oder landwirtschaftliche Maschinen zu sehen. Doch unter der ursprünglichen Oberfläche hat sich die Struktur des Dorfes schon stark verändert. Die landwirtschaftliche Fläche um den Ort, an der früher alle Familien des Dorfes ihren Anteil hatten, wird heute von drei Bauern bewirtschaftet. Abgesehen davon leben in Soce fast nur noch alte Menschen, deren geringer Lebensstandard durch die staatliche Rente finanziert ist. Diese Alten leben die letzten Züge einer Lebensform der Verbundenheit, der Gebundenheit mit dem und an den Ort ihres Lebens, und sie wird mit ihnen aufhören.
Denn die Kinder des Dorfes sind in die Städte abgewandert, und selbst wenn sich inzwischen wieder Leute fänden, die diese Gebundenheit wagen und auf vielerlei Luxus verzichten wollten, wäre es für sie doch schwierig, so grundlegende Dinge wie Gesundheitsversorgung oder Bildung vor Ort zu erwirtschaften. Dazu sind Lebensmittel heutzutage zu billig, und einen ausreichend großen Absatzmarkt für teurere, biologisch erzeugte und handwerklich verarbeitete Lebensmitttel gibt es in Polen nicht, und wird es in dieser Region auch so bald nicht geben.
Vielleicht ansatzweise durch ein starkes Anwachsen des “sanften Tourismus”. In den benachbarten Dörfern gibt es immerhin bereits vier sogenannte “agrotouristische” Unterkünfte. Vom Ortsbild her wäre Soce durchaus prädestiniert für diese Form des Tourismus, dennoch müssten wohl allerlei Regulierungen und Bauvorschriften erdacht werden, um den Massentourismus fernzuhalten, der eben dieses Ortsbild zerstören würde. Und selbst angenommen, dies gelänge, und es würde eine wirtschaftliche Grundlage für das Leben im Dorf geschaffen, ohne das Ortsbild zu verändern, so wäre es ein Museum, die leere Hülle der Lebensform, die diesen Ort geprägt hat.
Zurück nach Deutschland: Was ist hier anders gelaufen? Schließlich sahen viele deutsche Dörfer vor 60 Jahren wohl so ähnlich aus wie Soce vor vielleicht 15. Dennoch sind die Dörfer nicht ausgestorben, sondern vor allem in Westdeutschland oft sogar gewachsen. Das liegt wohl zum einen an der Vielzahl mittelständischer Unternehmen und kleineren Industriegebiete in den größeren Ortschaften, zum anderen an der hohen Mobilität der Bewohner, die oft Dutzende Kilometer in die nächste Großstadt zur Arbeit pendeln und nur noch zum Schlafen in den Dörfern sind. Beide Faktoren sind in Polen so stark nicht vorhanden, und wo sie es sind, ist die Zersiedlung noch schlimmer als in Deutschland, da sich die Bebauung nicht auf die Ortschaften konzentriert und die polnischen Neubauten oft noch geschmackloser sind als deutsche Einfamilienhäuser.
So ist das dörfliche Leben in beiden Ländern schon fast vollständig verschwunden, in Deutschland vor allem durch die Verstädterung der Lebensweise, in Polen auch durch ein langsames Aussterben vieler Dörfer.
Martin Haas
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Die Begegnung "Treffpunkt Białowieża - ein Ort für Mensch und Natur" wird ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks im Rahmen des Wettbewerbs "Treffpunkt übermorgen - Spotkajmy się pojutrze" sowie der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
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